Das Gras auf der Rancho Las Hierbas in Bend, Oregon stand so hoch wie noch nie. Von den Hirschen sah man nur die Köpfe, welche wie in einem Puppentheater langsam über das meterhohe Gras glitten. Es war der 4. Juli, „Independence Day“. Es fühlte sich alles wie ein richtig amerikanischer Tag an: In der Stadt gab es die obligatorische, patriotische Hundeparade mit zahllosen amerikanischen Flaggen. Facebook war voll von Liebesbeteuerungen an die größte Nation der Welt und ein junger Trump-Fan erschoss in Chicago sechs Menschen und verwundete 40 weitere. „Business as usual in America“, sagte ich zu Regula, während wir den Hirschen zuschauten, wie sie sich unserem Apfelbaum gütlich taten und an den unteren Blättern knabberten.
Wir waren zurück von unserer Foto Reise in den Dakotas, wo wir nicht nur Landschaften, sondern auch Amerikaner, Indianer und Geisterstädte fotografiert hatten. Es war eine anstrengende Tour gewesen. Ich fuhr fast 10 000 Kilometer von Oregon nach North Dakota und zurück wenn man die vielen Exkusionen vor Ort mitzählt. Es war schön in den „Paha Sapa”, den Black Hills von South Dakota. Wir fotografierten Mitglieder der Lakota in den Badlands als auch bei unserem Freund Charly Juchler in seinem Tipi-Lager. Es machte Freude, alte Freunde wie den Lakota-Künstler Jim Yellowhawk und seinen Vater Jerry wiederzusehen und die Büffelherden im abgelegenen Wind Cave National Park zu fotografieren. Die meisten Teilnehmer der Foto Reise waren alte Kunden, die wir gut kannten und schätzen gelernt hatten. Ich dachte schon wieder daran doch einmal eine Reise mit kleinster Gruppe zu organisieren.
In den Dakotas, besonders in den Black Hills, wehten überall Trump-Flaggen. Wo man hinschaute las man „Go Brandon“. Man begegnet Leuten mit Trump-Hüten, Trump-Flaggen, Trump-Tattoos. Kaum ein Kleinlastwagen ohne mindestens eine Schmähung gegenüber dem liberalen Amerika.
Eines Abends saßen wir in einer Brauerei in Minot, der „Fracking Capitol“ von North Dakota. Es war noch früh und nur wenige Leute waren da, was uns sehr gelegen kam. Die Eingangstüre hatte als Türöffner zwei echte Winchester Gewehre und drinnen hingen überall ausgestopfte Tier an den Wänden. Das Bier war gut, das Essen vorzüglich. Die Dame, die uns bediente, war überfreundlich und sehr professionell. Christy, eine Kundin, die in der US-Army gedient hatte um sich ausbilden zu lassen redete davon, wo sie hinziehen wollte. Sie hätte daran gedacht, alles zu verkaufen und in Portugal zu investieren. „Die USA sind kaputt und ich will weg“, sagte sie. Sie hoffte, wenn sie einen EU-Pass kriegen könnte, dann dürften ihre nun erwachsenen Kinder auch nach Europa ziehen. Ich trank mein Bier und dachte, wie ironisch das doch alles ist. Nun wollen die Amis nach Europa ziehen. Früher war es umgekehrt, die Europäer wollten die Green Card kriegen um in den USA zu leben. Das Forbes-Magazin brachte kürzlich einen Artikel mit den beliebtesten Zielen für auswandernde Amerikaner. Portugal, Spanien und Italien waren ganz oben auf der Liste, gefolgt von Kanada, Mexiko und Costa Rica.
Es herrschte Reisechaos auf der ganzen Welt. Flüge wurden gestrichen, Gepäck ging massenhaft verloren. Man hörte wahre Horror-Geschichten. Freunde wünschten uns viel Glück als wir ihnen sagten, wir würden nach Europa fliegen. Wir flogen von Los Angeles nach Zürich und waren nach der Landung binnen 15 Minuten mitsamt Gepäck im Land. Es war fast so wie in den guten alten Tagen wo Reisen bequem und einfach war.
Wir gingen Einkaufen um uns dann in das noch nicht renovierte Chalet am Grabserberg zurückzuziehen. Die Baubewilligung war noch nicht aus St. Gallen zurück, hieß es in Grabserberg. „Mit den Steuern sind sie prompter“, sagte ich zu Peter, unserem Bauunternehmer. Unser Freund der Architekt Markus Alder den wir noch von meiner Architektur Studienzeit her kennen wird für uns den Umbau des Ferienhauses Regulas Eltern vornehmen. Seit zwei Jahren ist sie stolze Besitzerin des Chalets am Grabserberg.
In der Migros der Schweizer Supermarkt Institution gab es keine Maskenpflicht mehr. “COVID ist out“, sagte Regula. Ich versuchte mich zu orientieren. „Welche Milch schäumt besser für den Cappuccino?“, fragte ich mich. MBudget-Milch gibt es in großen 2-Liter-Packungen. Ich las, dass Migros zufolge die Packung umweltgerecht hergestellt wurde. „Das ist schön“, dachte ich, „aber was ist mit der Milch“. Beim Mineralwasser sah es ähnlich aus. Das Wasser in grünen PET-Flaschen war angeblich sogar klimaneutral, was wohl heißt, dass irgendwo auf einer gottverlassenen Bananeninsel ausgleichend ein paar Bäume gepflanzt wurden. Beim Kaffee gab es nette kleine Plastik-Döschen mit Kaffeesahne, aluminium-versiegelt, mit der Aufschrift „Bio“. Aha, dachte ich, die paar Milliliter Rahm stammen von Bio-Kühen. „Brave new world“, dachte ich.
Oben auf der Alp war es wieder wie letztes Jahr: Die Kühe sahen aus wie katholische Büßer und schleppten ihre schweren Schellen wie Geißel-Instrumente über die Wiesen. Eine ganze Familie von Wanderern mit den obligaten Wanderstöcken näherte sich. Es machte klick und klack, aber sie waren schnell wieder vorbei.
An meinem sechzigsten Geburtstag (60, gesprochen SECHZIG) kam die Baubewilligung von der St. Galler Behörde, datiert auf den 16. August 2022. „Also pünktlich zum Geburri“, sagte Regula, die mit ihren drei Jahren weniger auf der Uhr gut lachen hatte. Man gab uns eine Ausnahmebewilligung für 1100 SFr zuzüglich zur Genehmigungsgebühr. „Anders als in Mexiko bekommt man in der Schweiz sogar eine offizielle Rechnung für die Bestechungsgebühr“, sagte ich. Nun durften wir also umbauen auf der Voralp. Aber ganz abgesehen von den nun um 30% höheren Preisen war daran dennoch noch nicht zu denken vor dem Jahr 2024: Den langen Lieferfristen geschuldet werden wir froh sein, wenn wir es bis dahin hinkriegen.
Kein Aufenthalt in der Schweiz wäre komplett ohne mindestens einmal eine von alten Kindheitserinnerungen behafteten Stätten zu besuchen. „Geh bloß nicht nach Abtwil“, sagte meine Schwester, ihr Gesichtsausdruck eine Mischung aus Trauer und Ärger. Mein Vater hatte das Haus am Farnenwald verkauft, obwohl wir ihn immer gedrängt hatten, es bloß nicht zu verkaufen. Ich glaube, er hat es verkauft nur um uns zu ärgern. „Einmal Katholik, immer Katholik“, sagte Regula. „Einerseits von Schuldgefühlen geplagt, andererseits immer eine fiese Ader“ dachte ich. Meine Mutter sagte immer Kasi, mein Vater, wäre wie ein Appenzeller Bless gewesen, bissig und hinterlistig. So schlimm war er nicht. Er war großzügig, schlug uns nie, war oft abwesend und ermöglichte uns ein sorgenfreies Aufwachsen.
Natürlich gingen wir nach Abtwil. Nachdem wir uns in Degersheim ein Bild des Abtwiler Kunstmalers Joseph Eggler gekauft hatten, haben wir uns irgendwie in Winkeln verfahren und endeten prompt in der alten Heimat Abtwil. Ich glaube, wenn jemand versucht hätte die hässlichste Ortschaft der Schweiz zu erschaffen, hätte er es nicht so gut so schrecklich hingekriegt. Die Scheußlichkeit von Abtwil ist ganz organisch auf einer Basis von Geldgier, Unvernunft, schlechtem Geschmack und langjährigem Planungsversagen entstanden. Man muss den Ort kennen, um zu verstehen wie viel Hässlichkeit hier entstanden ist. „Sollte die äußere Landschaft die innere Seelenwelt widerspiegeln, dann ist Abtwil verloren“, dachte ich. Schafft man es tatsächlich, die heute von riesigen Gewerbebauten verschandelte Ortseinfahrt bei Bruggen zu finden, wird man gleich begrüßt von der Bildstraße, welche bereits in meiner Jugend von grauseligen, in den sechziger Jahren gebauten Wohnblöcken entstellt war.
Fährt man weiter, kommt man in das Dorfzentrum, wo heute die St. Galler Bäckerei Gschwend ein schönes Kaffee führt. Das liegt fast gegenüber der alten Bäckerei Schrödel, wo damals die Bäckersfrau mit ihrer Tochter die hervorragenden Backwaren des Meisters verkauft hatten. Der Österreicher Schrödel war so erfolgreich, dass der alte Besitzer des Ladens, der auch Bäcker war, den Mietvertrag kündigte und wieder selbst anfing zu backen, nur um dann kurz danach wieder zu schließen. Den guten Pretzel von Schrödel und den hübschen Damen trauerte die halbe männliche Bevölkerung von Abtwil noch Jahre nach. Heute ist in dem Laden eine italienische Pizzeria angesiedelt.
Das eigentliche Zentrum wurde schon vor Jahren von einer Art grauen Wohnsiedlung, deren graue fade Architektur Stalins Herz höher schlagen lassen würde, entstellt. Wir folgten der Auwiesenstrasse und der halbherzigen neuen Hauptstrasse zum Farnen, wo ich am Waldrand in einem Einfamilienhaus aufgewachsen bin. „Die mussten die Häuser wahrscheinlich mit dem Hubschrauber einsetzen“, sagte Regula, „die Dinger sind so dicht zusammengebaut, ich weiß gar nicht wie sie das gemacht haben.“ Ein Wirrwarr an Sträßchen, Gehwegen, Sackgassen und Radwegen führt zwischen einer Art Baumaterial- Ausstellung hindurch. Häuser aus meiner Kindheit, die damals schon architektonisch bedenklich waren, wurden noch mit Wintergärten, Balustraden und Gewächshäuschen weiter verunstaltet. Es gibt so viele neue Wohnsilos und Reihen-Einfamilien-Häuschen, dass ich mich kaum mehr zu recht fand.
Das Haus, das mein Vater 1961 gebaut hatte, war in der Tat abgerissen worden. Es wurde gerade ein gigantisches Haus auf dem Grundstück neu gebaut. Nachdem ich mit Mühe und Not den Weg in Richtung Farnenwald gefunden hatte, parkte ich am Waldrand an der Rütistrasse. Der alte Waldweg entlang dem Farnenbach war völlig verwildert und kaum mehr begehbar. Eine wild wuchernde Brombeerstaude ritzte Regulas Haut am Bein auf. Seit meine Mutter und die Nachbarn gestorben sind geht niemand mehr diesen Weg, welcher früher von meiner Mutter in Stand gehalten wurde. Dann sah ich die alten Buchen. Eine davon war über einen Meter dick. Neben den Buchen gab es Eichen, große Ahornbäume und riesige Fichten, die hier anscheinend ewig nicht mehr abgeholzt wurden. Für mich war der Wald schöner als in meiner Kindheit, da er viel wilder und einsamer war. Das gab mir Hoffnung, denn wenn sie die Natur so schnell erholen kann, besteht Hoffnung auf Heilung. „Es hat also doch etwas Gutes, wenn die Leute nur noch auf ihre Handys starren“, sagte ich zu Regula, die noch nie eine große Abtwil-Freundin war.
Ich schaute auf das „Inseli“, die damals bewaldete Halbinsel am Bachrand neben dem Haus, die meine Eltern damals mit zum Kauf anregte. Der Wald darauf war gerodet worden und ein großer Zaun versperrte den Weg. Meine Schwester hatte recht: Am besten geht man nicht mehr nach Abtwil.
Bevor wir wieder nach Amerika reisten machten wir noch ein paar heftige Wanderungen hinter unserem Chalet. Einmal stiegen wir hoch zum Chäserrugg und bezwangen dabei 1000 Höhenmeter, um dort weit in die Alpen zu sehen. An einem Abend liefen wir den Weg hoch beim Gasthaus Voralp und ich fotografierte mit Stativ, wie sich das Abendlicht auf den Gamsberg senkte. Zwei Kühe leckten sich gegenseitig im Gras. Während ich wartete, hörte ich Regula mit einem Bauern reden. Klar, sie ist ja hier eigentlich Zuhause, dachte ich und war daher nicht erstaunt, dass sie so lange mit dem knorrigen Typen redete. Ich konnte mit einem Ohr mithören während ich ab und zu ein Bild schoss. Der Mann redete pausenlos.
Auf dem Heimweg sagte ich zu Regula. „Worüber hast Du dich so lange mit dem Bauern unterhalten und wie konntest Du ihn eigentlich verstehen?“ Regula sagte mit gesenktem Blick: „Er war sehr nett, aber ich habe nur die Hälfte von dem verstanden, was er gesagt hat.“
Wir liefen schweigend durch die Dämmerung zum Haus. Die Chapfwand glomm noch in sanften Rottönen über uns. Im Haus von Regulas Tante war das warme Licht in der Stube zu sehen, und wie sie am Tisch saß und etwas las. Ein Waldkauz rief und es wurde frisch. Es fröstelte mich und ich freute mich auf unsere warme Stube im Chalet. Ich dachte wie schön es hier doch ist und wie ich Menschen wohl nie verstehen würde.
Christian Heeb, © 2022