Gestern kam Edgar vorbei, um für uns ein paar Dinge zu erledigen. Edgar ist ein Mann aus dem Dorf und sieht aus wie ein Bilderbuchmexikaner mit dickem Schnauzbart, muskulösen Armen und einem immer freundlichen ovalen Gesicht. Wir kennen ihn seit über zehn Jahren, als er bei uns als Gärtner anfing. Er arbeitete auch für Mr. Bill, dem mysteriösen Besitzer des Ventana Bay Resorts, einem kleinen, rustikalen Resort.
Edgar spricht nur Spanisch, aber spricht seine Wörter langsam und klar aus, so dass ihn Gringos wie wir gut verstehen und wir uns austauschen können. Wie so oft plauderten wir mit ihm über Gott und die Welt und über unser ewig wachsendes Dorf. Edgar ist mittlerweile zum Unternehmer aufgestiegen. Er verwaltete viele Häuser und ist der Mann für alles. Es hilft, dass er anscheinend mit jedem im Dorf verwandt ist. Er kennt jeden und löst jedes noch so kniffliges Problem. „Du bist nun der große Mann,“ sagte ich mit einem Augenzwinkern. Edgar lachte und sagte: „Nicht wirklich, ich bin immer noch der alte und Anna ist der Boss. Immer habe ich Hunger, ich esse dauernd große Burritos und habe immer noch keine Freundin.“ Edgar ist verheiratet, hat zwei erwachsene Söhne und eine noch kleine Tochter. Seine Frau Anna putzt im Resort. „Alle meine Freunde haben Freundinnen“ sagte er. „Ich aber bin ein Mann, der nur eine Frau will. Meine Güte, den Stress tue ich mir nicht an. Dauernd haben sie Probleme, meine Freunde. Die Frau will dieses, die Freundin will jenes. Was für ein furchtbares Leben,“ sagte er schmunzelnd.
Viele mexikanische Männer sind vom Machismo geprägt und auch in Mexiko sind es meistens die Frauen, die mit dem Kopf arbeiten. Als Regula und ich vor ein paar Jahren durch Mexiko reisten, kam es vor, dass Regula aus dem Auto stieg, um jemanden nach dem Weg zu fragen. Wenn es ein Mann war, kam der dann zu mir ans Auto und erklärte mir den Weg, obwohl ihn ja Regula gefragt hatte und sie die Navigation machte. Männer denken, nur Männer können das.
Wir hatten viel Glück in Mexiko. Man hört ja immer diese Horrorgeschichten von Leuten, die betrogen wurden, ihre Häuser verloren und frustriert wieder in die USA zurückgingen. Mexikaner sollen anscheinend faul und verlogen sein. Sie trinken viel, fluchen laut und sind überhaupt schmuddelige Menschen, sagen diese Gringos.
Als wir 2004 aus Frust nach der Wiederwahl von G. W. Bush das Land kauften, war uns Mexiko bereits von vielen Reisen vertraut. Unsere Freundin Esther Ammann betrieb ein Hotel im nahen La Paz, und wir kannten bereits Mr. Bill und seinen mexikanischen Assistenten Tony. Tony trafen wir bei unserem ersten Besuch in La Ventana, und er ist noch immer Mr. Bills rechte Hand und der Verwalter unseres Hauses und unser Freund.
Wenn man mit einem Mexikaner am nächsten Tag um 10 Uhr einen Termin ausmacht, steht er bereits 5 Minuten zu früh vor der Türe. Abgesehen von der Pünktlichkeit, arbeiten sie dauernd, ohne zu klagen und können alles reparieren. Meine Freunde aus Costa Rica konnten es kaum glauben, als sie hier zu Besuch waren. Wir mussten eine Batterie bestellen und der Mechaniker im Dorf sagte: „Ich bestelle die und morgen um 9 Uhr könnt ihr sie abholen.“ Das traf genauso ein und Roger aus Costa Rica sagte nur: „In Costa Rica hätte das nie funktioniert.“
„Wie lebt man denn so in Mexiko,“ fragen die Leute oft. „Ist es nicht gefährlich?“ Die Antwort lautet wie in vielen anderen Ländern auch: „Es lebt sich sehr gut, wenn man genug Geld hat.“ Mexiko ist riesig und natürlich hängt einiges davon ab, in welcher Region man lebt. Hier auf der noch ruhigen, Halbinsel von Baja California lebt es sich sehr komfortabel. Im Moment ist der Peso niedrig, dass das Leben um einiges günstiger ist als in der Schweiz oder in den USA. Wein und Schweizer Käse sind teuer. Dafür ist der frische Fisch direkt aus dem Meer unverschämt billig.
Kürzlich paddelten wir mit Kajaks zum 20 Minuten entfernten Agua Caliente Strand. Wir nehmen immer die Boote von Mr. Bill und fahren dorthin über das türkisfarbene Meer. Es war ein karibischer Tag mit kristallklarem Wasser, wolkenlosem Himmel und Temperaturen um die 26 Grad. Wir landeten und badeten in der blauen Lagune und setzten uns in die heiße Quelle am Strand. Ein Graureiher beobachtete uns argwöhnisch. Die Kandelaber Kakteen auf den Klippen sahen aus wie Strichmännchen, und der ganze Küstenabschnitt war menschenleer. „Es braucht eine Pandemie, damit man seine Ruhe hat,” sagte Regula, während sie sich genüsslich im Salzwasser treiben ließ. In der Tat war es herrlich in diesem Winter. Die Travelers campierten nicht am Strand. Keine kläffenden Hunde waren zu hören, keine Hippie-Typen auf schmuddeligen Yoga Matten, die Kopfstand üben. Es gab auch kaum Mountain Biker und keine europäischen Frührentner in Autos, die hier in Mexiko mehr kosten als ein Haus. Es war grandios.
Auf dem Rückweg waren an der Küste nur ein paar Mexikaner zu sehen, die die Häuser der Gringos verwalten. Eine junge Amerikanerin mit hochrotem Kopf joggte den Strand hoch, aber im Resort von Mr. Bill war niemand zu sehen außer ein paar Arbeiter, die gerade die Bar renovierten.
Es war alles so, wie wir es hier in El Sargento mögen: staubige unebene Straßen, ab und zu ein Mexikaner mit Schnurrbart und großem Hut in einem klapprigen Kleinlastwagen, Kakteen und stacheliges Gestrüpp und tausend Kilometer Einsamkeit.
© Christian Heeb
15. Februar, 2021