Die blauen Wasser des Golfes wogen vor mir wie ein von unsichtbarer Hand bewegtes Seidentuch. In der Ferne sehe ich dunkle, in der warmen Luft flimmernde Strichmännchen, die sich den langen Strand entlangbewegen. Sie sind von dunklen schwirrenden Punkten umgeben. „Gringos und ihre Hunde“, stöhnt Regula.
„Will man hier in Mexiko auf der Baja-Halbinsel als Expat leben, braucht man mindestens einen Hund, einen rostigen Jeep und ein Alkohol-Problem“, sage ich schmunzelnd zu Regula. Es ist wie alles im Leben. Einer fängt an zu rennen und sobald genug mitmachen sprinten alle hinterher bis keiner mehr weiß, warum er eigentlich rennt.
Es ist unsere letzte Woche in Mexiko bevor wir wieder nach Norden fahren, um dort eine Foto Reise zu leiten und unser Haus in Oregon für den Sommer herzurichten. Die Hundeleute sind inzwischen verschwunden, der Strand ist verlassen. Ich bin etwas müde, denn letzte Nacht hatte ein Nachbar das Tor offengelassen und nach Mitternacht stand eine Kuh vor meinem Fenster und war dabei, unseren schönen Nopal-Kaktus, den ich erst letztes Jahr dort gepflanzt hatte, zu verschlingen. Wir mussten das Vieh mühsam über unser ganzes Land fortjagen.
Nun nehmen wir die Paddle Boards und fahren hinaus auf das stille Wasser der Sea of Cortez. Die Wassertemperatur ist etwa 19 Grad und baden macht richtig Spaß. Einige Rochen springen über die Oberfläche und klatschen vor uns zurück ins Wasser. Das tun sie oft; man hört das laute Platschen manchmal bis hoch zu unserem Haus. Warum sie das tun weiß man nicht. Es wird vermutet, dass sie damit ihren Frauen imponieren wollen.
Unter uns schwimmen bunte Fische und das Meer flimmert in schillernden Blautönen. Es ist völlig ruhig bis auf das leise Plätschern des Wassers, das von unseren Rudern ins Meer zurück tropft. „Traumhaft“, flüstert Regula, und in der Tat ist es im Frühjahr hier besonders schön. Auf dem Weg zurück zum Haus sehen wir unseren Freund Edgar, der gerade die Palmen eines Nachbarn bewässert. „Hola Amigos, como estas?“ schmettert er uns strahlend vor Freude entgegen.
„Uns geht es gut“, sage ich und frage ihn, warum er so gut drauf ist. „Ach es ist herrlich“, sagte er, „es ist wieder ruhig hier, sie sind alle wieder in den Norden gefahren und das Wetter ist perfekt. Nicht zu heiß nicht zu kalt. Pura Vida.“. Die Mexikaner können aufatmen und das Leben geht wieder seinen gemächlichen Gang.
Natürlich ist die Welt nicht in Ordnung und in der Ukraine herrscht Krieg.
Als die Sowjetunion zusammenbrach war ich gerade dabei, meine Karriere als Amerika-Fotograf aufzubauen. Die Leute sagten zu mir „Christian! Jetzt kannst du Russland fotografieren! Das wird ein großer Markt werden für dich.“
Ich dachte an Sibirien, an die Bilder der Gesichter von russischen Soldaten in Berlin nach dem Krieg, an Kirchen mit Zwiebeltürmen und an endlose Wodka-Gelage und sagte: „нет“. Dann, Mitte der Neunziger, als die Bilderberg-Agentur-Fotografen den „Wilden Osten“ dokumentierten und dabei die verseuchten Stätten der missglückten Industrialisierung der Sowjets dokumentierten sagte ich weiterhin: „Nein, danke.“Später schaute ich mir die Bilder von Hans Jürgen Burkard an, der die russische Mafia dokumentierte. Mir wurde fast schlecht. Selbst danach, als ein weiterer Deutsche Fotograf, Gerd Ludwig, für National Geographic Russland fotografierte kam bei mir kein Wunsch auf, den Osten zu fotografieren. Für mich wirkten fast alle Russischen Männer noch immer wie britische Hooligans mit anderem Akzent. Die Frauen flohen alle in den Westen, wenn es irgendwie ging, was ich ihnen nicht verübeln konnte. Einen Auftrag des Reich-Verlages zu Moskau lehnte ich dankend ab und fotografierte lieber Argentinien.
Dass Putin ein Problem ist wusste ich nicht nur instinktiv sondern auch von Garry Kasparov, dessen Buch „Winter is Coming“ das klar gemacht hatte. Es war ein Wunder, dass beim Kollaps der Sowjetunion kein großer Krieg ausbrach wie in Afghanistan nach dem Abzug der Russen. Irgendwie glaubte der Westen tatsächlich an Francis Fukujama’s „End of History“. In diesem Jahr zeigte sich aber, dass sich die liberale Weltordnung doch nicht ganz durchgesetzt hatte.
„Es fehlt nur noch, dass Gott doch nicht tot ist wie Nietzsche sagte“, denke ich mir drei Wochen später, während unser Camper am Salton Sea in Kalifornien steht. Gerade hier in den USA kommt die Religion mit ungebremster Macht zurück.
Wir müssen wieder nach Norden fahren und machen gerade Station in Kalifornien. Die Militärkontrollpunkte, an denen minderjährige, schwer bewaffnete Soldaten sich einen Spaß daraus machen, verstörten Amerikanern möglichst viele spanische Worte ins Gesicht zu schleudern, sind für uns unkompliziert. Unsere mexikanische Niederlassung ist da hilfreich. Die Soldaten wirken enttäuscht, als sie merken, dass wir ihre Sprache sprechen. Der US-Zollbeamte winkt uns trotz zwei Flaschen Campari zu viel im Gepäck durch und wir tauschen kurz ein paar Witze aus. „Siehst du, es hat auch Vorteile alt zu sein“, sage ich zu Regula, die prompt kontert mit: „ja, draußen an der Tanke, wo du mit dem mexikanischen Tankwart gesprochen hast, hast Du mit deinem großen Hut, den kurzen Hosten und den Badeschlappen ausgesehen wie ein alter wackeliger Kanadier.“
Am Salton Sea campieren wir immer auf einem verlassenen Campingplatz voller toter Palmen in einer Art Mad Max-Szenario. Kurz nach Sonnenuntergang nutze ich das zarte rosa Licht zum Fotografieren. Es ist noch immer 38 Grad und ein heißer trockener Wind weht mir ins Gesicht. Am Meer in Mexiko war es bedeutend kühler.
Zwei Off Road Buggys fräsen an mir vorbei und passieren das Schild: Staub-Kontroll-Gebiet. Die Staubwolke der Fahrzeuge nebelt mich ein während ich die toten Palmen für meine „5o States of Grey Serie“ fotografiere. Ich fotografiere dafür Amerika wie es ist. Es sind Bilder im Sinne von Stephen Shore, William Egglestone und Alec Soth. Genau das Gegenteil meiner Reise- und Landschafts-Bilder für Verlage, Magazine und Agenturen. Dabei bin ich froh, dass diese Bilder – die ich auch sehr gern schieße – immer noch gut gehen, denn der Bildermarkt ist massiv eingebrochen und die Kollegen jammern.
Als Berufsfotograf fotografiere ich Bilder in verschiedenen Stilen für verschiedene Kunden. Für mich selbst fotografiere ich auch andere Dinge, die „Amerika wie es ist“-Serie, meine „American Dreamscapes“ oder meinen „Uncle Sam“. Es gibt für mich nichts Langweiligeres als jahrelang dasselbe zu machen. Es gibt einige Fotografen, die mich heute schwer beeindrucken. Es bringt mir mehr Freude, ihre Arbeit zu betrachten als sie zu imitieren. Ich denke da an Edward Burtynsky, Nadav Kander oder Erwin Olaf.
Dann, nach tausend Meilen Einsamkeit und Sagebrush sind wir wieder in Oregon. Es ist noch immer kalt und die Hirsche haben erst begonnen ihren Winterpelz abzustreifen. Ein Kojote streicht am Haus vorbei und ein Reh guckt direkt in unser Wohnzimmer. Wahrscheinlich denken die Viecher: „Oje, sie sind wieder da, nun muss man wieder aufpassen.“
Christian Heeb, © 2022