Der Flug von San Francisco nach Zürich mit der SWISS Airline ist erstaunlich voll. Es ist ein seltsames Gefühl, nach über einem Jahr wieder in einem Flugzeug zu sitzen. Wir sind so lange nicht mehr gereist, dass ich richtig eingerostet bin und die charmante westschweizerische Stewardesse prompt auf Französisch anrede – was mir eigentlich völlig fern liegt. Vorne thront ein großes Bild vom Matterhorn und die maskierten jungen Damen der Crew tänzeln wie verschleierte arabische Schönheiten zwischen den Gängen hin und her. Wir dürfen dank unseres Schweizer Passes bequem ein- und dank des Ami-Passes auch wieder in die USA zurückreisen.
Zwei Tage später sitzen wir auf der Terrasse des Chalets am Grabserberg und schauen, wie der Nebel vom Voralpsee aufsteigt und sich wie der Geist aus der Flasche ins Nichts auflöst. Regula hat als Kind hier ihre Sommer verbracht, manchmal auch Weihnachten gefeiert, damals, als die Familie noch die letzten Hundert Meter zum Haus durch den Schnee stapfen musste. Eine Straße gab es noch nicht. Hier tobte sie wie eine blonde, kleine Heidi durch die blühenden Wiesen und entwickelte ihre Liebe zur Natur. Gut für mich, dass sie hier nie auf ihren Ziegenpeter stieß so dass ich mich noch einbringen konnte.
Heute, nach 25 Jahren im trockenen Oregon und in der Wüste Mexikos genießen wir den Regen, die feuchte Luft und die grüne Landschaft. Regula ist jetzt stolze Besitzerin des Grundstücks mitsamt dem Chalet. Ihre Patentante wie auch leibliche Tante ist die nächste Nachbarin und besitzt das Haus unter uns. Ich, der Fotograf, staune über die Lichtstimmungen und die wildromantische Landschaft hier. Ich mache dauernd Bilder, einfach weil es so schön ist und ich alles als exotisch empfinde.
Dann beginnt das Entrümpeln des Chalets. Fünfzig Jahre Leben müssen entfernt werden. Ich kann das, ertappe mich aber öfters beim lauten Fluchen, wenn ich gerade eine von Mäusen zerfressene Skihose aus den sechziger Jahren finde oder eine Ansammlung von vergammelten Globi-Büchern im Keller. Die Generation unserer Eltern hatte nie was weggeworfen aber doch gerne was gekauft.
In Oregon, zu Hause, ist es brutal heiß, vierzig Grad sogar. Es brennen die Wälder. Die Luft ist schlecht und unsere Freunde leiden. In Mexiko herrschen 32 Grad, es hat geregnet, was gut ist für die Vegetation. Hier in der Schweiz regnet es dauernd. In Teilen Deutschlands und der Schweiz gibt es gerade katastrophale Überschwemmungen. Auf der Voralp aber wechseln sich Sonne mit Regen ab, die Landschaft ist entrückt von allem. Die Gegend hat große Vorteile für uns, auch weil wir viele Freunde im Raum St. Gallen und Appenzell haben. Regulas Eltern wohnen in Buchs. Wir kennen uns etwas aus hier. Regula sowieso. Vieles ist ihr fremd und vertraut zugleich. Wir tasten uns also durch die Schweiz und treten öfters ins sprichwörtliche Fettnäpfchen. Im Obi-Baumarkt in Abtwil lösen wir prompt das Parkticket nicht, weil wir denken, dass es gratis ist für die erste Stunden. Und wir blockieren wie Amateure die Ausfahrt. Obwohl ich in Abtwil aufgewachsen bin verfahre ich mich mehrfach auf der Suche nach dem Eingang zum IKEA. Wir kennen alles aber doch alles nicht und es kommt die Frage auf, wo wir denn eigentlich zu Hause sind. Wir sind genauso Amerikaner wie Schweizer und als zeitweise Wahl-Mexikaner suche ich verzweifelt nach Tequila. Den trinkt man hier anscheinend aber nicht. Ich finde endlich eine überteuerte Flasche von mittlerer Qualität in einem Spezialgeschäft. Die Rigatoni a Tequila sind damit also gerettet.
Nun schaue ich mich im Migros-Laden um und gucke die Schweizer an. Sie sehen alle noch so aus wie ich sie in Erinnerung habe. Sie tragen modernere Haarschnitte und modische Brillen, Ami-Käppi und bunte Hemden und sind etwas wohlgenährter als in meiner Jugendzeit. Sie kaufen in erster Linie in Plastik eingeschweißtes Obst und Gemüse ein. Joghurt besteht in der Migros aus Stärke, Milchfett und viel Zucker. Irgendwie ist der Plastik-Anteil hier fast noch größer als in den USA. Aber man kann alles trennen und schnell vergessen, damit mindestens die Wohnung sauber aussieht.
Am Abend gehen wir nach St. Gallen und treffen unsere Freunde Markus und Martina. Sie leben noch immer in ihrer Wohnung im Westen der Stadt und haben sich entschieden, Kinder zu haben anstatt durch die Welt zu reisen. Wir laufen durch die mausgrauen St. Galler Gassen, wo es Pflastersteine in geradezu beängstigenden Mengen gibt. Wir gehen vorbei an unserem schönen Fachwerkhaus an der Gallusstrasse, dass ich mit einer Schwester besitze und in dem Regula und ich mehrere Jahre lebten. Wie immer in der Altstadt, wenn ich die breiten, zu Stein erstarrten Straßen überquere, erwarte ich irgendwie, dass gerade eine Kolonne von geschorenen Wächtern der heiligen Inquisition auf dem Weg zu einer Hinrichtung um die Ecke biegt. Statt übereifriger Kirchenväter sehe ich aber nur junge Männer mit langen, wilden Bärten und kichernde, überparfümierte junge Frauen, die alle aussehen wie Kim Kardashian. Die Männer sind alle haarig und tätowiert wie bei uns in Oregon. Anscheinend ist die Männermode von Amerika aus in die Schweiz geschwappt. Die Mädchen, wenn sie nicht perfekt Kim imitieren, haben wieder die gleich geschnittenen Hosen und Jacken wie wir das Anfang der achtziger Jahre cool fanden. Das Restaurant San Lorenzo, passend benannt nach dem christlichen Bild der Stadt, ist noch immer genau wie vor 30 Jahren. Selbst die Karte ist dieselbe. Nur die grauen Haare unserer Freude und die Falten in unseren Gesichtern verraten, dass wir alle älter geworden sind.
Den restlichen Abend verbringen wir zwischen balzenden jungen Leuten im Biergarten des Bahnhofspärkli. Die bärtigen Jungs trinken dunkles Bier wie die in Oregon. Wellen von Marihuana-Rauch wabert durch die warme, feuchte Luft. Die Mädchen im Park kichern und trinken aus mitgebrachten Gläsern und Dosen, die dann im Gestrüpp landen während ab und zu ein sauteures Sportauto mit gut situierten Halbstarken drin um die Ecke dröhnt.
Als alte St. Galler haben wir natürlich gratis in der blauen Zone im Linsenbühl geparkt. Wir werden am Abend mit einem kotzenden Säufer an der Ecke belohnt und misstrauisch von verschiedenen Leuten beäugt. Unsere Freunde gehen zu Fuß nach Hause. Wir versuchen, die Autobahnzufahrt zu finden, denn wie gewohnt ist gerade alles wegen Baustellen gesperrt. Auf der Autobahn sagt Regula nach all dem Trubel, „gut, dass wir auf der Voralp wohnen und dort nur die Heidi, meine Kuh, bimmelt.“ Kühe trinken nicht und sehen noch immer aus wie vor dreißig Jahren. Die Kühe bei uns haben sogar noch ihre Hörner. Es hat sich gelohnt, die alte Heimat wieder einmal zu besuchen.
Ein paar Tage später machen wir am Morgen eine kleine Wanderung. Es beginnt typisch für uns. Ich nehme eine Kamera mit einem Zoom 24-120mm mit und nur einen Polarisationsfilter. Kurz vorher kam der Fotograf Roland Gerth auf einen Kaffee vorbei. Wir waren uns uneinig ob man graue Verlaufsfilter noch braucht. Er benutzt sie noch immer, ich versteh mich auf Photoshop und so lassen wir das heikle Thema. Roland geht an den Walensee und wir gehen hoch in Richtung Kurhaus Voralp. Unten am Straßenrand beim alten Stall von Regulas Großvater hat der Pächter Walter eine amerikanische Flagge mit Bild von Marilyn Monroe gehievt. Er lacht als wir vorbeikommen und sagt, „ich wollte mal was anderes als die Schweizer Flagge sehen.“
Wir laufen locker 200 Höhenmeter und die Wandergruppen und E-Bike-Rentner sind verschwunden.
Wir kommen auf eine erste kleine Alp mit Kühen. Unten sieht man den Voralpsee und weiter hinten das Rheintal. Da wir noch fit sind steigen wir immer weiter das Tal hoch. Überall hat es Wildblumen und Kühe mit lauten Glocken. Irgendwann erreichen wir das Ende des Tals und es wird steinig. Große Büsche mit blühenden Alpenrosen wachsen an den Hängen. Es schellt aus allen Ecken. Kühe überall, Kuhfladen und Fliegen ohne Ende. Die Landschaft ist komplett zertreten und versumpft von den schweren Viechern und es ist ein Gebimmel, dass man sich fast nach der Ruhe in der Stadt sehnt.
Die Kühe sind alle freundlich und wir grüßen sie und kraulen einigen das Fell. Sie tun mir leid, denn wer will schon dauern eine laut schellende Glocke um seinen Hals haben und bei jeder Bewegung Lärm erzeugen. Die Bauern, von Grund auf konservativ, glauben, dass die Glocke einfach Tradition ist und dass Kühe auf hochalpinen Wiesen ökologisch wichtig sind. Lustigerweise sind dieselben Traditionalisten nun gerne bereit, das geschnittene Gras mit motorisierten Laubbläsern den Berg runter zu blasen und das Heu in Plastik einzupacken. Es ist eine selektive Auslegung von Tradition, aber wer einmal mit einem Landwirt gesprochen hat weiß, dass diese Diskussion sinnlos ist. So geht die subventionierte Alpverschandelung und die Lärmbelästigung immer weiter.
Nun geht es steil den Bergrücken hoch. Wegen Absturzgefahr gibt es einen Zaun, der die Kühe von den Klippen fernhält. Der Weg windet sich hoch zum Kamm und die Vegetation ist hier intakt und voller Wildblumen, darunter auch der blaue Enzian. Keine Kühe und dafür mehr Pflanzenvielfalt. Ganz oben stehen wir in einem Blütenmeer und schauen ins Tal hinunter. Wir sehen den Walensee und die Autobahn. Wir sitzen wie in einem Adlerhorst und es geht auf beiden Seiten in die Tiefe hinunter. Hier lässt es sich aushalten denke ich. Weit unten höre ich das Gebimmel der Kühe und rechts, noch weiter unten, die Schweizer Moderne.
Abends sitzen wir im Skihaus Gamperfin, einem urigen Restaurant, in dem sich gerade mehrere Generationen von Regulas Familie aufhalten. Wir sitzen an groben Holztischen und trinken sauren Most. Draußen zieht ein Gewitter auf. Regen prasselt auf die grüne Landschaft. Die Sonne bricht durch und eine Tante sagt, „da gibt es sicher einen Regenbogen”. Ich gucke den Kamm hoch. Mein Blick schweift über die Wiesen und ich sehe einen braunen Regenbogen queer über der Landschaft liegen. Es ist ein Bauer, der die Gülle in hohem Bogen über die Felder schleudert. „Alles beim alten“, denke ich, „die Schweiz bleibt die Schweiz”. Dann trifft mich der Güllegestank wie eine Ohrfeige und Regula sagt, “mach das Fenster zu”.
© Christian Heeb 2021. Foto Workshop Voralp
Monika Widmer meint
Hoi Christian
Einfach grossartig dein blog! Ich musste mehrere Male lauthals lachen, Christian, der Schweizer durch und durch