Britisch Kolumbien, Kanada
Eigentlich wollte ich keine Kamera mitnehmen und unsere 7 Tage auf dem Meer im Great Bear Rainforest von British Columbia mit den Augen genießen. Die Cruise war ein Geburtstagsgeschenk für Regula und kein Auftrag. Ich musste also nicht fotografieren, konnte einfach nur genießen, aber… ich konnte es natürlich nicht lassen und brachte zwei Kameras mit. Die unzerstörbare Nikon 850 und ihr kleiner DX-Bruder, die D500. Ein Zoom 200 -500 (im Crop Bereich 750) und ein 24 – 85 Zoom sowie einen Weitwinkel. Zwei Polarisationsfilter und ein Stativ. Einmal Fotograf, immer Fotograf, sagte ich mir nicht zu Unrecht und war dann froh, dass ich sie gebracht hatte.
Nun aber saß ich wie ein begossener Pudel auf einem schwankenden Schlauchboot im kalten Regen an einer Flussmündung an der Küste. Meine Bootskollegen, es waren insgesamt fünf Pärchen, die in zwei Schlauchboote verteilt waren und still vor sich hin litten, waren in regensichere Kleidung gehüllt. Die Kameras und Objektive trugen ihre Plastikmäntel, und unser Kapitän Neil sah aus wie ein Marinesoldat bei der Landung in der Normandie. Sein starrer Blick war in Richtung Berge gerichtet, welche sich hinter dem Feuchtgebiet auftürmten, wie die Zinnen Mordors.
Auf den Sitka-Tannen saßen Fischadler in großer Menge. Auf einem Baum zählte ich zwanzig große Vögel. Möwen schwammen auf dem Wasser wie Gummienten in einem Sprudel Bad, und ein kalter Wind fegte vom offenen Meer her auf uns zu und ließ unser Boot schwanken wie eine Schaukel. Im Wasser lagen überall die Überreste von Lachsen, und so konnten die Bären auch nicht weit sein.
Captain Ahab, wie ich Neil im Geiste nannte, war auf Bärensuche und ich sah es den Blicken meiner Reisepartner an, dass sie schon an Happy Hour auf dem Boot dachten und eigentlich nicht hier draußen sein wollten. Nur Regula schien guter Dinge und hatte ihr gewohntes Strahlen im Gesicht.
Der Regen kam nun heftiger, peitschte auf unsere Kapuzen, wurde uns ins Gesicht geblasen und ich war froh, dass Regula unsere regenfesten Hosen eingepackt hatte. Es war kein Bär in Sicht an dem Abend, und wir waren froh, als wir wieder in unserem Schiff saßen und heißen Tee tranken. Kevin unser pummeliger Koch hatte ein schmackhaftes Lachsgericht gekocht und alle trugen wieder trockene Kleidung. Bei einigen war Wasser eingedrungen, wir aber waren trocken geblieben und die Plastikhüllen, mit Klebband befestigten Regenmänteln der Teleobjektive, hatten ihren Dienst geleistet.
Die Central Coast von British Columbia wurde umbenannt auf Great Bear Rainforest, was besser klingt und einfacher zu vermarkten ist. Die grandiosen Fjordlandschaften dort erinnern an Norwegen und Neuseeland, haben aber den großen Vorzug, dass es hier Bären und Wölfe gibt, mitunter ein Grund, warum wir da waren. Leider stehen nicht alle Regionen unter Naturschutz. Es ist ein Flickenmuster von privatem, provinziellem und indianischem (First Nation) Land, das in einem komplexen byzantinischen System verwaltet wird. Indianer heißt nicht immer Naturschutz und die Interessen der Provinz sind oft mehr ausgelegt auf Steuereinnahmen als auf den Schutz wildlebender Tiere.
Money Talks, auch in Kanada geht es um Geld, um Jobs, Holz und Fischfang und kurzfristigen Ertrag.
An der Flussmündung des Mussel Rivers sehen wir am kommenden Tag zuerst nichts außer Adler, Raben und tote Lachse, nebelverhangene Sitka und Hemlocktannen sowie einige Zedern. Captain Ahab, der stehend das Boot lenkt, sagt plötzlich: „Dort sind sie, die Bären.“ Wir, die etwas tiefer sitzen, sehen nichts. Sanft tuckert unser Schlauchboot dem Ufer entlang und ich sehe braune Flecken im Gras. Es sind drei Grizzlybären, die schlafen. Man nimmt sie kaum wahr, hätte zu Fuß voll in sie hineinlaufen können. Einer hebt den Kopf und blickt uns an. Ein zweiter Kopf erscheint. Wir schauen uns an, von Mann zu Bären und Bären zu Frau. Unsere Kameras klicken vor sich hin. Es ist eine schöne, friedfertige Begegnung.
Am nächsten Tag sind wir im Kootze Zufluss und finden uns in einer ähnlichen Situation. Auf einer kleinen Grasinsel in der Flussmündung sind zwei Grizzlybären. Es sind etwa 2,5 Jahre alte Geschwister, die zum ersten Mal ohne ihre Mutter auf eigener Faust unterwegs sind. Unsere Schlauchboote dümpeln auf der Nordseite der Insel und wir fotografieren mit unseren Tele-Optiken die Bären. Langsam kommen sie auf uns zu gelaufen, was eher ungewöhnlich ist. Sie kommen schnüffelnd bis an das Ufer und sind nun nur wenige Meter vor uns. Dann fangen sie an zu spielen, balgen sich vor unserer Kamera. Meine Optik ist fast zu stark, so nah sind sie und Captain Ahab sagt, mehr zu sich selber: „unfassbar.“ Später sagen die Guides, es wäre die am nächsten gelegene Bärensituation gewesen, die sie je erlebt hätten. Die Grizzlys waren so nah bei uns, dass ich mit meinem Handy gefilmt hatte, denn mein 200-mm-Objektiv war zu nah für einige der Bilder.
Bären haben eine extrem feine Witterung. Sie übertreffen die von Hunden bei Weitem und wissen daher schon lange, dass dort ein Mensch ist. Sie kamen zu uns, weil sie hier in der unberührten Natur sicher sind und uns nicht als Gefahr wahrnehmen. Britisch Kolumbien hatte vor einigen Jahren die Grizzly-Jagd verboten, was eben dazu führt, dass Tiere uns nicht als Gefahr wahrnehmen. Leider wollen einige der Jagdverbände wieder darauf zurückkommen, was ein Wahnsinn ist, und Captain Ahab, Neil, ärgert sich unglaublich darüber. Mir ist es unverständlich, wie man so ein Tier ermorden kann, ohne sich ein Gewissen daraus zu machen. Trophäenjäger und Trophäenfischer stehen bei mir etwas auf gleichem Rang wie Mücken und Stubenfliegen.
Bären sind friedliche Tiere, die sich nicht um Menschen kümmern und die keine Gefahr darstellen, solange man sich vernünftig verhält. Joggen zum Beispiel ist keine gute Idee im Bärenland, auch dort nicht, wo es Pumas und Wölfe gibt. Wer springt, gibt sich als Opfer zu erkennen und weckt den Jagdinstinkt der Raubtiere. Der Bär ist nur gefährlich, wenn man sich den Jungtieren nähert und die Mutter diese beschützen will. Das Problem ist der Mensch, nicht der Bär. Passiert es, dass ein Bär einen Menschen anfällt, geht in der Regel ein Mediengeschrei los. Der Bär wird als Problembär bezeichnet und meistens abgeschossen.
Täglich sterben Tausende von Menschen wegen betrunkener Autofahrer, psychopathischer Kriminelle, Teenagern ohne Fahrausweise und an Lebensmittelverseuchung, aber das wird akzeptiert. Alkoholisierte Autofahrer, Wiederholungstäter, die jemanden ermorden könnten, könnte man ja auch als Problemmenschen bezeichnen und abschießen, aber der Mensch ist sich halt selbst am nächsten.
Der Naturfotograf Paul Nicklen der seit Jahrzehnten Bären fotografiert, sagt: Sie werden einfach missverstanden und unfair charakterisiert, aber größtenteils sind sie friedliche, sanfte und intelligente Wesen.
Das geht mir bei dieser Reise durch den Kopf, während ich an vielen Orten Bären beobachte.
Unser Schiff fährt durch die von der Eiszeit geformten Fjordlandschaften. Überall fließen Wasserfälle die Granitfelsen bergab, denn es hat viel geregnet. Es gibt auffallend wenig Schifffahrtsverkehr. Wir sehen tagelang kaum einen anderen Menschen. Dafür Wale ohne Ende, Robben und Seehundekolonien, Adler und viele Arten Wasservögel. Die meisten Hänge sind dicht bewaldet, aber der Baumbestand lebt auf dünnem Boden, denn auf dem Granit hat sich nur eine dünne Humusschicht gebildet.
Entlang der Flüsse erstreckt sich gemäßigter Regenwald. Es ist ein Land, das von unserer Zivilisation vergessen scheint, genauso wie ich es mag.
Einmal, kurz vor der Dunkelheit, sehen wir vier Wölfe an einem Strand. Seewölfe nennt man sie heute, aber es sind einfach Wölfe, die ans Meer kommen.
Nach der langen Eiszeit, die die Landschaft hier geprägt hat, siedelten Indianer entlang der Küsten. Die Menschen kamen aus Asien schon vor über 12000 Jahren übers Wasser hierher, aber sie blieben nicht. Die Vorfahren der heutigen Stämme entlang der zentralen Küste von Britisch Kolumbien siedelten sich vor 8000 Jahren an, als die Gletscher schwanden und es wärmer wurde. Durch die Gegebenheiten des Landes entwickelten sich die Stämme unterschiedlich. Gesiedelt wurde an den Mündungsgebieten und an geschützten, dem offenen Meer nicht ausgesetzten Buchten. Alle Indianer hier lebten vom Meer. Die gigantischen Mengen an Lachse, Muscheln, Krabben und Krebse ließen niemanden Hunger leiden. Einige wenige Stämme wie etwa die Makah jagten auch Wale und alle supplementierten ihre Nahrung mit Wurzeln, Beeren und Knollengewächsen. Da sich entlang der Küste sehr unterschiedliche Völker aufhalten, kann man auch heute nicht von einer einheitlichen indianischen Haltung sprechen, was den Schutz der Region schwieriger gestaltet. Die kanadische Regierung, sowohl die Provinzregierungen, sind dem Druck der Industriebarone von Holzwirtschaft, Öl und Gas sowie Kohle ausgesetzt. So will man etwa eine Ölpipeline durch die Fjorde bauen, um Öl aus dem wohl weltweit schmutzigsten Förderungsgebiet, den Bitumenminen in Alberta, nach Asien zu verschiffen. Das Pipeline-Konsortium versucht aktiv, indianische Stämme davon zu überzeugen. Wie die Zukunft aussieht, weiß keiner. Obwohl weniger die Frage ansteht, ob die Indianer genug Jobs haben, sondern ob unsere Zivilisation die anstehende Klimakatastrophe überleben wird.
Unsere Reise fand Ende September statt und vom Pazifik her kamen bereits große Winterstürme, die sich unentwegt im Pazifik entwickelten und sich dann entlang der Nordwestküste von BC und Alaska abregnen. Captain Ahab war dauernd damit beschäftigt, windgeschützte Buchten zu finden, damit wir ruhig schlafen konnten. Einmal mitten in der Nacht rammte ein Wal unser Boot, aber sonst war es still. Die Buckelwale waren überall, und ich machte viele Fotos von Schwanzflossen und Wassersprudel. Gegen Ende der Woche, nach der Sichtung von 22 Grizzlybären und 5 Schwarzbären und leider keiner Spirit-Bären-Sichtung,waren wir bereit, wieder an Land zu gehen. Der Weiße Bär, der hier heimisch ist, zeigte sich nicht. Der Spirit oder Kermode Bär ist ein weißer Schwarzbär, der aufgrund einer genetischen Eigenschaft manchmal weiße Haare hat und kein Albino ist.
Das Wetter hing nun tief, die Wolken berührten die Meeresoberfläche und es regnete unentwegt. Es ist ein seltsames Gefühl, wenn man nach einer Woche wieder Internet hat, schmutzige Straßen sieht und mehr Menschen in zwei Minuten trifft als vorher in einer Woche auf See. Ein wortkarger Sikh fuhr uns mit einem alten Schulbus von Kitimat zum regionalen Flughafen im Ort Terrace. Wir alle saßen schweigsam im Bus, während uns der Sikh-Fahrer durch abgeschabte Waldlandschaften fuhr.
In Vancouver hatten wir uns ein Hotel am Flughafen gebucht und dort stand unser Auto, mit dem wir am kommenden Tag nach Hause in Oregon fahren wollten. Wir fuhren kurz zu einer Shopping-Gegend, um etwas zu essen. Teslas schien das Auto zu sein, das man hier fuhr und die Welt bestand nur aus Shops und Restaurants. Zersiedelung vom Feinsten mit einem kanadischen Akzent dachte ich. Vancouver ist Asien. Die Menschen schienen alle aus dem asiatischen Raum zu sein, und so aßen wir in einer kleinen vietnamesischen Nudelküche umgeben von Menschen, die versuchten Suppe zu essen und gleichzeitig ihr Handy zu bedienen. Es hätte genauso in Seoul, Shanghai oder Hanoi ausgesehen.
Der Inder in der Rezeption im Hotel war typisch für seine Rasse. Er hatte schöne Gesichtszüge und wie aus Hartholz geschnitzte dunkel Haut, war freundlich und gesellig und hatte noch nie etwas von Bella Bella gehört, wusste nichts von Bären, wilden Regenwäldern und Walen. Seine Welt hörte am Stadtrand von Vancouver auf und wahrscheinlich ging das 98 Prozent der Emigranten im Lande genauso. Der Inder war Mitglied einer internationalen Gruppe von Stadtmenschen, die überall auf der Welt gleich schienen. Stadtmenschen, die jeglichen Bezug zur Natur, zu unserer Erde verloren hatten und in einer technologisierten Kapsel wohnten, die ihnen die Illusion gab, ohne die Naturgesetze existieren zu können. Ich fragte mich,wie man unsere Zivilisation retten konnte, wenn die Menschen nicht einmal wussten, dass außerhalb des Internets eine reale Welt existierte, dass wir in einer Welt mit limitierten Ressourcen lebten und dass wir bereits mehr jedes Jahr nutzten, als sich regenerieren konnte.
Dann zahlten wir unsere Rechnung und fuhren in 8 Stunden nach Hause in Oregon.
© Christian Heeb 2024
Willst du bei diesem Natur Erlebnis mit dabei sein? Im Herbst 2026 ist dies möglich.