Es schneite unentwegt auf der Rancho las Hierbas in Oregon. Einige Hirsche knabberten draußen an den letzten Blättern der „Bitterbrush“-Büsche. Vögel wie Junkos und Meisen wuselten am Vogelhaus herum, als wäre Schnee ein alltägliches Ereignis. Drinnen saßen wir im Wohnzimmer, das vom Kachelofen beheizt wurde, tranken Tee und beobachteten die Tiere. Am Tag zuvor hatte ich eine Menge trockenes Holz nahe der Staatswaldgrenze verbrannt, da es bei Schnee am sichersten ist und ich den Winter dafür nutzte. Normalerweise waren wir um diese Jahreszeit in unserem Haus in Mexiko, aber da wir im Januar eine Fotoreise in Banff, Kanada, durchführten, blieben wir in Bend.
Regula las die Zeitung online und sagte: „Ach, gestern gab es eine Weihnachtsparade in Bend.“ Ich schaute auf meine Nachrichten und sah, dass es Bilder von fröhlichen Kindern, winkenden Eltern, lachenden Polizisten und scheinheiligen Politikern gab, die alle mit Santa-Mützen auf der Straße waren. „Die einen laufen mit Santa-Mützen die Straße entlang und winken. Die anderen stehen mit Santa-Mützen an der Straße und winken zurück“, sagte ich lakonisch. Ich interessierte mich jedoch für eine ganz andere, typisch amerikanische Nachricht.
Eine 31-jährige Frau wurde am vorherigen Abend verhaftet, nachdem sie vor dem Sportsman-Warehouse geparkt hatte und der Polizei aufgefallen war. Als die Polizei ihre Papiere überprüfen wollte, floh sie und fuhr auf der Gegenfahrspur des Highway 97 Richtung Norden. Dabei kollidierte sie mit einem entgegenkommenden Auto, fuhr jedoch weiter. Schließlich traf sie mit voller Geschwindigkeit auf ein langsameres Fahrzeug, wodurch es Verletzte gab. Danach floh sie zu Fuß und versteckte sich in einem Gebüsch, wurde jedoch von einem Drohnen- und einem K9-Spürhund-Team entdeckt und verhaftet. Sie stand unter dem Einfluss von Drogen und Alkohol, ihr Führerschein war suspendiert, ihre Fahrzeugbescheinigung abgelaufen und sie war mehrfach vorbestraft und auf Bewährung auf freiem Fuß.
„Immerhin hatte der Spürhund etwas zu tun und bekam etwas Auslauf“, sagte ich zu Regula, die nun die Weihnachts-Paraden-Geschichte ignorierte und mir von einer Frau vorlas, die um 10 Uhr morgens betrunken in ein Ladengeschäft gefahren war. Ich sagte nur: „Schön, dass wir hier in Bend fast dreißig Brauereien haben und dass Marihuana endlich legalisiert wurde.“ Eine weitere Nachricht lautete: „5 Personen wurden in Happy Valley erschossen“. Ich dachte, niemand war wohl in Happy Valley glücklich. Ich trank Tee und schaute auf unser Land. Ich war glücklich darüber, dass wir einen 400 Meter großen Bereich hatten, der uns und den wilden Tieren vorbehalten war, ohne dass andere Menschen uns stören konnten. Es war schön, etwas Abstand von der Stadt und ihren Bewohnern zu haben.
Bevor wir nach Mexiko in unser Haus fuhren, arbeiteten wir an unserer Webseite. Ich hatte vor, alle unsere Bücher aufzulisten, die wir im Laufe der Jahre fotografiert hatten. Als ich die Bände fotografierte und zusammenstellte, wurde mir bewusst, dass es unmöglich war, alle Bücher online zu stellen. Wir hatten weit über 200 Bildbände und viele Reiseführer. Einige Bände erschienen in mehreren Auflagen oder in erweiterter Form, auch als fremdsprachige Ausgaben. Regula sagte immer: „Unsere Häuser sind auf deinen Fotos gebaut“, und nun wurde mir bewusst, wie recht sie hatte.Joachim Hellmuth vom Bucher Verlag sagte einmal, als er meine Dias durchsah: „Mein Gott, was der Heeb nicht schon alles fotografiert hat.“ Das Gefühl hatte ich auch, als ich meine Bücher betrachtete. Dreißig Jahre ununterbrochenes Reisen ergab eine Menge Bilder. Ich blätterte die Bücher durch und es blickten mich längst vergessene Menschen an, wie Aborigines in Australien, bereits verstorbene Indianerhäuptlinge, Kinder in Brasilien und hübsche Himba-Frauen in Namibia. Dazu kamen Cowboys, Gauchos, Vaqueros, Franzosen in Berets, Bauern mit Mistgabeln, Schafzüchter in Neuseeland, Punks in New York, Salsa-Tänzer, Bauchtänzer, Cowgirls und „Appenzeller Silversterchläuse“ – alle Menschenarten, die es auf der Welt gibt.
Dazwischen gab es endlose Landschaften, Highways, Skylines, Regenwälder, eine jüngere Version von mir mit Haaren und engen Jeans, immer mit Kamera in der Hand, und Regula mit blondem Haar, hoch auf Klippen stehend.
Wir haben in neunzig Ländern fotografiert. Mir wurde fast schwindelig beim Betrachten der Bücher. In Schachteln schlummerten noch tausende von Ausschnitten aus Magazinen, Broschüren und Ausstellungs-Katalogen. Titelbilder aus aller Welt lagen da wie Relikte aus einer anderen Zeit. Tatsächlich wurde unser Leben auf Bildern gebaut. An das Archiv wollte ich gar nicht denken.
Mit sechzig Jahren ist es so eine Sache. Der deutsche Western-Experte Dietmar Kügler war gerade mit 71 Jahren verstorben. Das machte einen nachdenklich. Ich dachte über meine Lebenserwartung nach, wie die meisten unserer Freunde. Man schaut immer so nachdenklich auf seine älteren Freunde, Verwandten und Eltern und denkt: „Wie gut sind die noch im Schuss? Wie wird es mir im Alter ergehen?“ Man beobachtet und kalkuliert die eigenen Chancen. Der Song von Hank Williams Jr. „All my rowdy friends have settled down“ ging mir wieder durch den Kopf.
Nun waren wir wieder in unserem Haus in Mexiko angekommen, nachdem wir die Winterlandschaften der kanadischen Rockies hinter uns gelassen hatten. Statt Schnee, Eis und Blizzards genossen wir nun die stillen Wasser des Golfs von Kalifornien. Die Teilnehmer unserer Fotoreise in Kanada hatten uns überredet, eine Fotoreise namens ‚Baja California‘ zu organisieren, die wir nun auch im Januar 2025 durchführen wollten. Fünf Personen hatten sich bereits fest angemeldet (was bedeutet, dass noch ein Platz frei ist (nun ausgebucht)). Es würde also doch noch eine Reise geben. Und zusätzlich plante ich noch eine Reise `Crossing America´ quer durch Amerika im September 2025, die von Portland, Oregon nach Boston führen wird. Bilder anschauen.
Diese epische Reise wird durch Montana und zu den Großen Seen, den Niagarafälle und nach Upstate New York führen und schlicht unvergesslich werden. Auch hier hatten wir bereits fünf feste Zusagen. „So viel zur Pensionierung“, meinte Regula und ich sagte: „Naja, das sind ja eigentlich nur Urlaubsreisen“.
In El Sargento, am Meer im Süden der Baja-Halbinsel, wo unser Haus steht, war es dieses Jahr erstaunlich grün. Im Januar hatte es noch einmal geregnet, und daher war die Wüste ein grüner Urwald. Einige der kleinen Kakteen hatten Blumen und die Elefantenbäume (Bursera microphylla), Limberbush (Jatropha cardiophylla) sowie die Ocotillos und Adam-Trees hatten grüne, satte Blätter. Es wimmelte von Vögeln in unserem Garten: Rote Kardinäle, Orioles, Spottdrosseln, Trällerer, Wüsten-Zaunkönige und drei Arten Spechte, um nur einige zu nennen. Alles war gut in Schuss, denn Edgar, unser Mann, hatte gut gearbeitet, so dass wir uns gleich wieder zuhause fühlten.
Im Dorf wurde weiterhin viel gebaut und es boomte. 1992 war ein Ausländer aus dem Norden noch eine Sensation gewesen, heute waren 90 Prozent der Wirtschaft von El Sargento und La Ventana von Gringos aus dem Norden geprägt. Es kamen auch Blogger, Influencer und Digitale Nomaden hierher. Kaum ein Tag verging, an dem nicht ein Van für 120.000$+ am Strand stand oder gerade über die staubige Straße in den Ort fuhr. Ich sagte zu Regula: „Weißt du, mit dem Wachstum bekommen wir hier mehr von den zwei anstrengendsten und nervigsten Lebewesen: Hunden und jungen Männern.“ „Ja. Das warst du auch einmal“, kam die Antwort zurück. Zugegeben. Ich sagte auch, dass alte Männer und Flintenweiber anstrengend sind, denn sie fuhren hier pausenlos mit sogenannten „Squads“ durch die Gegend und dachten, sie seien so cool und jung geblieben. „Du wirst immer mehr zum klassischen Grumpy Old Man“, sagte sie. „Perfekt“, sagte ich und schrieb meinen ersten Blog mit dem Titel „Der Reisemuffel“:
Hier auf der Baja gehört Hunden die Welt. Kaum ein Auto fährt vorbei, aus dessen Fenster nicht ein VIP-Hund schaut. Hunde ruhen sich im Schatten vor den Restaurants aus und warten auf ihr Mittagessen, Hunde spielen am Strand, jagen hinter Vögeln her und baden im Meer, Hund kacken auf die Straße, Hunde kläffen in der Nacht (frei nach Herbert Grönemeyer).
Die Van- und Digital-Nomaden posteten im Frühjahr und machten auf Mitleid. Es hieß: „Hola, Ich bin Gisela aus Deutschland oder Janine aus Paris, ich spreche vier Sprachen und möchte gerne über den Sommer ‚gratis‘ dein Haus hüten. Ich habe noch einen süßen, geretteten ‚rescue‘-Hund, der keine Probleme macht, und eventuell kommt noch ein Freund, aber wir sind saubere Leute.“ Viele waren Nomaden mit eigener Webseite, wo zu Spenden aufgerufen wurde. „Willst du weiterhin meine Reiseberichte lesen? Sende bitte Geld fürs Benzin!“, hieß es. Sie sahen alle süß aus, fröhlich, lachend und hatten anscheinend von den Hunden gelernt, wie es geht, sich gut verkaufen zu können, dachte ich.
Frauen waren in der Regel ruhig und nicht aggressiv, Männer meist das Gegenteil. Sie fuhren Squads, Motorräder, hatten Lautsprecher in den Kleinlastwagen eingebaut, fuhren hochtourig und brauchten für alles den Motor.
Wir sind schon seit 18 Jahren hier in Mexiko. Die Neuen fragen immer: „Wie lange seid ihr denn schon hier?“ Im Gegensatz zu den Neuen gehören wir, wenn schon nicht zu den Gründervätern, zumindest zu den Alteingesessenen. Die Pioniere, die Anfang der 1990er Jahre ankamen und mit denen alles anfing sterben bereits nach und nach. Die ursprünglichen mexikanischen Fischer-Familien sind zwar noch da, zählen mittlerweile aber zur Minderheit im eigenen Ort.
Traf man sich auf einer der vielen Partys zum „Sundowner“ drehten sich die Gespräche immer um den Wind, das Wasser und die richtigen Segel zum „Winging“ oder „Kite Surfing”. Heute aber geht es meist erst einmal um Hüft-Operationen, Chemotherapien, Zahnprothesen und Hautkrebs.
„Ja, es ist schlimm mit Jimmy“, sagt der eine. „Demenz ist wirklich nichts Schönes. Werden sie das Haus verkaufen?“, fragt eine Maklerin. Keiner ist sich sicher. „Jennifer und Tony sind nun geschieden.“ Ich nicke: „Ja, schade“. Die sind etwas jünger als wir. In unserer Generation lässt man sich nicht mehr scheiden, dazu sind wir zu alt und zu lange zusammen. Die Jüngeren haben noch Träume. „Wer bekommt das Haus“? fragt die Maklerin. Keiner weiß es. Regula redet mit ein paar Typen, ich mit ein paar Frauen. Typisch für uns. Wahrscheinlich reden sie darüber, welchen Verteiler man für die Solaranlage am besten einbaut, denke ich.
Dann rede ich mit einem älteren Pärchen, das ich immer am Hund erkennen. Sie sehen aus wie alle anderen alten Gringos, aber der Hund, ein Schnauzer, ist unverkennbar. Jedes Jahr laden sie uns auf einen Drink ein, aber irgendwie schaffen wir es nie. Dabei wohnen sie nur hundert Meter oder so westlich von uns. Seit sie eine große Garage gebaut haben, direkt vor dem Nachbarn hinter ihnen, ist dieser stinksauer auf sie, denn er sieht das Meer nicht mehr.
Fast alle hier haben ein Doppelleben: Im Winter wohnen sie hier in Mexiko, den Rest des Jahres im Norden, dort, wo die Enkelkinder sind. Einige haben zu viel Geld, was man an der Größe der Garage erkennen kann. Viele trinken zu viel und versuchen das mit Gassi-Gehen mit den Hunden zu kompensieren. Am Strand kann man das daran feststellen, dass die Menge der Muschelschalen in dem Masse abnimmt wie die Menge an Hundekot zunimmt. Alte Frauen mit Plastiktüten klauben dennoch jede angespülte Muschel auf. Sie ignorieren den Hundedreck.
Wir nehmen oft das Surfbrett, um auf das Meer hinaus zu paddeln. Wir gleiten an den Strand mit den Thermalquellen und gehen dort direkt vom Brett aus ins Wasser. Dort sind wir ungestört. Manchmal summt ein Elektro Surfer vorbei. Er sieht aus wie Jesus, der übers Wasser geht, denke ich, denn er schwebt nur so über das Wasser. Nachdem er uns noch einmal zuwinkt macht es „Platsch“ und er liegt im Wasser. Draußen springen Rochen in die Luft und klatschen wieder auf die Wasseroberfläche. Manchmal tummeln sich Delphine und öfters jagt ein Schwarm Nadelfische vorbei, wenn ein Mahi Mahi hinter ihnen her ist. Der Golf von Kalifornien ist noch immer ein Naturparadies und ein reichhaltiges Meer.
Zurück im Haus, genießen wir den Cappuccino und lauschen den Vögeln. Das Cardinal-Männchen ist jetzt im April damit beschäftigt, die Weibchen zu beeindrucken. Er trillert stundenlang vom Palo-Blanco-Baum herunter. Manchmal kopiert ihn der Hooded Oriole, wie ich glaube, nur um ihn zu ärgern. Morgens werden wir meist mit dem Sonnenaufgang wach, weil dann, oder kurz davor, der Cactus Wren loslegt. Diese Vögel klingen wie ein rostiges Vorhängeschloss oder so eine Kinderratsche, wie ich die aus meiner Jugend-Zeit kenne. Chriiiitsch, chriiiitsch machen sie. Die Verdins dagegen sind kleiner, süßer und fiepen leise. Darunter ertönen, fast wie der Klang von einer Bass-Gitarre, das endlose Gurren der wilden Tauben. Mittlerweile erkennen wir sehr viele Vögel an ihrem Ruf.
Dann ist es wieder soweit und wir packen alles ein, geben Edgar die Schlüssel und fahren nach Oregon, um von dort zu unserer Fotoreise nach Neufundland aufzubrechen.
Christian Heeb, © 2023
Juchler charly meint
In einem ruhigen Moment deinen Brief gelesen …super geschrieben danke, die gleichen Gedanken begleiten mich in mein 60igstes lebensjahrzehnt welches ansteht…Die chante etan reisejahre absehbar aber weitershin voller Ideen und Visionen….
Monika Widmer meint
Lustig zu lesen, Christian, vor allem von den alten Frauen und Männer gut sind wir noch soooo jung