Als meine Frau und ich im Jahre 1986 zum ersten Mal für achtzehn Monate nach Amerika gingen, wollte ich Indianer und Landschaften fotografieren. In meinen Kopf schwirrten Fragmente von Bildern der klassischen Western-Maler. Die präzisen Stiche und Aquarelle des Schweizers Karl Bodmer etwa oder die Western- Landschaften von Charlie Russell und Frederick Remington. Gegenwärtig waren uns auch die romantischen Gemälde von Alfred Bierstadt und Thomas Moran, die nicht nur den Amerikanern im Osten die grandiose Schönheit des Westens vermittelten.
Dreißig Jahre später stehe ich hoch über der Salbei-Wüste von Central Oregon auf den Klippen des Paulina Peaks. Unter mir die zwei Seen Paulina und East Lake. Im Osten sehe ich unendliche Wüstenlandschaften und im Westen die fernen Gipfel der Cascades-Vulkane der Three Sisters, Mount Jefferson und Mount Hood.
Vor mir steht Acosia Red Elk, eine Indianerin aus Oregon. Sie trägt ein historisches Hirschlederkleid, das von Ihrer Großmutter an sie weitergegeben wurde. Acosia ist hierzulande bekannt als Kämpferin für indianische Frauenrechte und gehört zu den besten Tänzerinnen auf den Pow Wows im Westen.
Heute habe ich mein volles Repertoire und zahlreiche technische Utensilien für ein starkes Foto dabei. Regula und ich platzieren zwei Alien Bee Blitzlampen am Abgrund. Eine, um Acosia seitlich mit rötlicher Folie anzuleuchten, und eine weitere frontal als Aufheller. Die Sonne geht im Rücken des Models unter, so dass eine weitere Aufhellung der Person hilfreich ist. Beide, Model und Fotograf, balancieren am Abgrund.
Eigentlich passt alles. Die Sonne wirft ihre rot-orange farbigen Strahlen auf Acosia und die Felsen. Wir fotografieren verschiedene Posen, verändern den Aufnahmewinkel. Regula kämpft gegen aufbrausende Windböen und beschwichtigt aufgeregte Touristen. Nein, es besteht keine Gefahr, dass die Frau herunterfällt. Acosia ist Yoga-Lehrerein und der Mann mit Hut ist eine Swiss Mountain Goat, der balanciert immer auf Felskanten rum. Einige Leute fotografieren mit ihren Handys, aber der Andrang hält sich in Grenzen, denn nur wenige Leute kommen hier hoch auf den Berg.
Die Schlacht ist fast geschlagen, die Sonne wirft gerade ihre letzten Strahlen auf den Berg, die Indianerin und mich, da sehe ich, wie die toten Bäume zu leuchten beginnen, und jage Acosia förmlich dorthin. „Ja, so stehen bleiben, den Rücken gerade halten, den Blick in die Ferne richten, etwas mehr nach links und die Füße noch etwas weiter nach vorn … perfekt.“ Sechs Bilder weiter ist das Licht weg, und ich habe das beste Bild ohne Blitze mit natürlichem Licht in einer Minute geschossen. So kann es manchmal gehen.
Sobald die Sonne weg ist, wird es kalt. Wir packen unsere Ausrüstung zusammen, verstauen alles im Auto, während Acosia sich noch an dem traumhaften Blick auf die Vulkane erfreut. Sie ist zum ersten Mal auf dem Berg und genießt jede Minute.
Ich glaube, dass Träume wahr werden, wenn man sich darum bemüht. Vor genau dreißig Jahren kam ich nach Amerika, um Indianer zu fotografieren, und nun wohne ich schon seit zwanzig Jahren in traumhafter Landschaft, und heute posiert Acosia Red Elk für mich im besten Licht, genau so, wie ich mir das damals in St. Gallen erträumt hatte.