Jetzt verstehe ich, was ein richtiger Schweizer ist. Es ist einer aus den Familien, die schon lange hier waren und der geblieben ist.
Schweizer leben also in der Schweiz und das schon lange, und sie bleiben da. Ich, ging weg, aber weil meine Familie immer da war, bin ich fast ein richtiger Schweizer. Die Heeb kommen aus der Zentralschweiz und hatten dort Hunger, gingen deshalb ins St. Galler Rheintal und blieben dort.

Die Seite meiner Mutter, die Helfenberger, waren Raubritter in der Ostschweiz. Man könnte sagen: Wegelagerer mit Burg. Leider beuteten sie ihre Leibeigenen so lange aus, bis diese die Burg zerstörten. Meine Mutter prahlte immer damit, dass es eine Ruine Helfenberg gab, worauf Regula sagte: „Wenn’s wenigstens eine Burg wäre, eine Ruine taugt nichts.“
Schweizer sind vorwiegend Menschen, die sich als Schweizer verstehen. Also Leute, die bleiben wollen und den Mythos Schweiz verinnerlicht haben.
Die Schweizer denken, sie seien freiheitsliebend, tolerant und weltoffen. Ein Schweizer ist also ein Mensch der Aufklärung, der Kompromisse eingeht und ab und zu ein Fondue genießt und mindestens 12 Kilo Schokolade im Jahr isst.
Dass die Eidgenossen eigentlich lange Bauern und Söldner im Dienste fremder Herrscher waren, wird gerne ignoriert. Unsere Halbstarken, die damals noch so richtig stark waren, kämpften nicht für die Freiheit, sondern für Gold und fremde Könige.
Meine Eltern waren richtige Schweizer. Mein Vater war großzügig, sparsam, religiös, umgänglich, lustig, und sarkastisch sowie undurchschaubar und verklemmt. Meine Mutter war aggressiv, großzügig, manchmal tolerant und hartnäckig, eigensinnig wie ein Steinbock, welches ihr Sternzeichen war, auch wenn sie behauptete, ein Schütze zu sein.
„Du kennst die Schweiz überhaupt nicht“, sagte mein Vater oft zu mir, erklärte oder zeigte mir diese, von mir unverstandene Schweiz, nie. Die Schweiz bereiste und erwanderte er mit seinen Kollegen. Seine männlichen Freunde waren sein Refugium. Ich wollte nur weg, nach Amerika, das Weite suchen, weg von Konformität, von Pfaffen, Kuhglocken, und alten Männern. Regula suchte auch das Weite und sah in mir ihre Chance.
In der Rekrutenschule gab es viele Schweizer. Leute wie Dietschi, Züst, Stauffer, Andermatten, Dürr und Mathis. Werschafte Büezer aus dem Wallis, dem Berner Oberland und aus dem Rheintal. In der Nacht, irgendwo in einem Schützengraben, hoch auf dem Berg, auf die russische Armee wartend, erzählten sie von ihrem Schweizer Leben, redeten von Fondue mit ihren Freundinnen nackt auf dem Lammfell, von knusprigem Speck und Mutters Hackbraten, sprachen von ihrer Zukunft im Reihenhaus, im väterlichen Betrieb, von Bohrmaschinen, Habeggern und Schleifmaschinen, während ich an meine junge Freundin dachte und an die weiten Landschaften Amerikas.
Nun ist mir bewusst, was ein Schweizer ist. Ein Schweizer ist einer, der sich mit dem Gerüst des Landes identifiziert. Ein Schweizer heute hat nur wenig mit den Schweizern der Vergangenheit gemein. Wie sagte Dürrenmatt: „Jede Generation muss nach einer neuen Begründung suchen“
Die heutige Schweiz entstand aus der Furcht vor den Deutschen und den Franzosen, als diese sich die Köpfe einschlugen und man Angst hatte, dass die kleinen Schweizer Ländereien unter die Räder kommen. Mit der Furcht vor den anderen konnte man die verschiedenen Länder der Schweiz zu einem Land zusammenschweißen. Damit das funktionierte, berief man sich auf zweifelhafte, Mythen wie die Tell-Legende und den vermeintlichen Rütli-Schwur.
Damit wurden wir alle Schweizer, obwohl man sich manchmal fragen kann, ob zum Beispiel die Appenzeller richtige Schweizer sind. Sie haben ihr ‚Branding‘ dermaßen perfektioniert, man könnte meinen, Appenzeller seien eine Art mystisches Zwergenvolk, so wie Gimlis Zwerge im Herr der Ringe. Die Berner, deren expansionistischer Stadtstaat jahrhundertelang ihr Umfeld dominierte, sehen sich noch heute in erster Linie als Berner und erst danach als Eidgenossen. Sie sind damit wie die Texaner in den USA oder die Bayern in Deutschland Nationalisten, sind halbherzige Separatisten innerhalb einer Nation.
Die Schweiz existiert, weil die Westschweizer keine Franzosen sein wollen, die Tessiner nicht Italiener und die Ostschweizer auf keinen Fall Deutsche. Österreicher will man schon gar nicht sein, denn da ist die Kaffeesauswahl zu groß und die Sprache klingt wie in Deutschland.


Natürlich gibt es sie noch, die richtige Schweiz mit ihren kernigen Eidgenossen. Es gibt Jodelfeste, Schwingerturniere, Wettschießen, aber das scheint mir wie ein Indianer-Powwow. Nur weil man sich in Federkostüme oder Trachten zwängt, heißt das noch lange nicht, dass eine alte Kultur auch noch gelebt wird, aber es hilft den örtlichen Verkehrsvereinen, den Brand Schweiz zu verkaufen, und stellt sicher, dass das Land unter Touristenscharen begraben wird. Was die Mongolen nicht auf die Reihe brachten, schafft der Tourismus Schweiz. Die heutige Schweiz, die sich jahrhundertelang durchgemogelt hat, zwischen den großen Mächten brav Geld gewaschen, Gold verfeinert, Waffen verschoben und den Reichen ein Refugium geboten hat, ist eingegliedert in die globale Wirtschaft. Das Land ist unabhängig und abhängig zugleich und der Spagat wird immer größer.
Nun, im Zeitalter von Trump wird es einerseits schwieriger, aber auch voller Chancen, denn die Superreichen brauchen wie gehabt einen goldenen Schutzraum. Leider sind die Bundesräte im Moment nicht gerade die besten, sind mehr an ihrem eigenen goldenen Fallschirm interessiert als an dem der Eidgenossen. Die Präsidentin dachte: Wenn sie ein Buch, das Trump vor fast vierzig Jahren mithilfe eines Ghostwriters geschrieben hatte, ihr bei den derzeitigen Verhandlungen hilft, dann steht es wirklich schlecht um das Land. Wer auch nur sporadisch zugehört hat, was der Mann sagt, gelesen hat, was Trumps Nichte, die Psychologin Mary L. Trump, geschrieben hat, wäre nicht in die Falle geraten, aber dazu müsste sie halt denken und nicht nur an sich.
Nun aber geht es bald zurück in Trumps Amerika, wo wir unsere Abschiedsfotoreise leiten werden. Einmal quer durch Amerika und zurück. Ein Abschied von einem Land, in dem wir fast vierzig Jahre gelebt haben, und der Abschluss unserer Fotografenkarriere. Das wird spannend werden. Denn die USA sind nicht mehr das Land, das wir 1986 entdecken durften und schätzen lernten. Es ist gerade dabei, sich in eine geschmacklose, Katzengold-Diktatur zu verwandeln, deren Bevölkerung verarmt und verdummt sich freiwillig zu Leibeigenen der Tech-Millionäre umwandelt.
Oregon ruft und wir sind bereit, hinzufliegen und unsere letzte große USA-Reise zu beginnen. The Grumpy Traveler rides again…
Am Flughafen von Bend/Redmond in Oregon wartet der Shuttlefahrer auf uns. Es war eine sehr große Frau, die uns auf die Rancho las Hierbas, zu unserem Haus, fahren sollte. Sie war für die späte Stunde, es war nach 11 Uhr abends, sehr gesprächig, hatte Humor, und wir amüsierten uns königlich über die Absurdität der gegenwärtigen Situation.
„Ich hoffe, ihr habt Euer Land schon gerächt“, sagte sie, als sie sah, wie groß unser Grundstück war. Das war eine Anspielung auf den senilen König in Washington, der gerade Chaos anrichtete auf unserem überbevölkerten Planeten.
Mir wurde bewusst, dass wir gerade über 9000 Kilometer gereist waren und die junge Frau in Oregon unsere erste Gesprächspartnerin war, seit wir uns von Hans, unserem Gärtner in Grabs, verabschiedet hatten.
Zwischen der Taxifahrerin und Hans lagen nur ein paar Floskeln zu bezahlender Beträge und dann die spröden Worte der Crew im Flugzeug, welche einem kaum ansah, wenn sie einem das Gericht servierte. Wahrscheinlich schämten sie sich selber über die Qualität des Essens und dachten, wenn sie uns ignorierten, ginge es besser.
Bei der Einreise, sekundenschnelle Gesichtserkennung, ein „Welcome back“ des Beamten und schon, nach fünf Minuten, waren wir an der Gepäckausgabe, umringt von ein paar in ihre Handys starrenden Mitreisenden. Im Lounge von San Francisco eine weitere Ansammlung auf Computer, Tablets und Handys starrender Homo sapiens und schweigsame Sklaven, die das schmutzige Geschirr abräumten. Danach die Taxifrau in Bend.
Reisen erweitert anscheinend den Horizont, sagt man. Meiner schien gerade geschrumpft.




Auf der Rancho blühte der Lavendel, erleuchtet vom Mond, es herrschte Stille. Ein paar Zikaden und später das Heulen der Kojoten. Es war noch wie immer. Die Luft fühlte sich seidig an. Lichtverschmutzung undenkbar. Ich schlief tief und wachte gut erholt auf, um die ersten Strahlen der Sonne zu sehen, wie sie den entfernten Vulkankegel des Mount Bachelor rosa färbten. Ich atmete tief ein und genoss den Geruch nach Salbei und Lavendel, nach trockenen Kiefernnadeln und Wacholder.
Wir saßen beide im Hof umringt von Blumen und tranken Tee. Regula sagte: „Denkst du, was ich denke?“ Ich sagte: „Ja, weit und breit keine Kuhglocke.“
Genau. Es gab keinen Bauer mit scheppernder Milchkanne, keine Wanderer mit Klapperstöcken. Kein Wunder, dachte ich, denn soweit ich sehe, ist hier alles mein Land.
Ein vorwitziges Streifenhörnchen sauste an Regulas Fuß vorbei, erschreckte sich und rannte pipsend davon. Es war erschrocken, dass wir wieder hier waren. „Der sagt das nun den anderen“, sagte ich zu mir selber, und im Lavendel sah ich den ersten Goldfinken. Die kommen jeden August, um die Samen des Lavendels zu fressen. Dieser sah kleiner aus als sein Verwandter in der Schweiz.
Jetzt, wo wir wieder hier in Oregon waren, fühlte es sich an, als ob wir nicht auf diesem Planeten lebten, als ob wir hier außerhalb unserer chaotischen Welt zu Hause wären. Es hatte dieses Jahr oft geregnet und es gab keine großen Waldbrände. Die Natur sah gut aus. Unsere Oase, die uns fast dreißig Jahre Zuflucht geboten hatte, war noch intakt.
Ich sagte zu Regula: „Warten wir einmal ab, was kommt“, und genau das taten wir.










Oregon, August 2025

The Grumpy Traveler
Christian Heeb Writer/Photographer
Stories from the road without the bullshit. No, I will not tell you what my favorite bag is and my mission is not, to share the beauty of our world. I have no van, no dog and I am no digital nomad. World peace will never happen. But I hope you get some laughs and will think before you hit the road …